Geschwister-Scholl

Das Leben der Sophie Scholl

geboren am 9.5.1921, hingerichtet am 22.2.1943

Die Informationen für diesen Text sind Tagebuchaufzeichnungen und Briefen Sophie Scholls und Augenzeugenberichten, vornehmlich ihrer Schwester Inge, entnommen.

Liebe Schülerinnen und Schüler der Geschwister-Scholl-Schule in Sigmaringen,
am 23. November 1966 hat der Gemeinderat der Stadt Sigmaringen beschlossen, der Volksschule am Sandbühl den Namen „Geschwister-Scholl-Schule“ zu geben.
Die ersten Schülerinnen und Schüler zogen im September 1966 in das neuerbaute Schulgebäude mit dem Namen
„Geschwister-Scholl-Schule“ ein.
Die feierliche Einweihung erfolgte im Herbst 1967 nach der Fertigstellung des Lehrschwimmbeckens und der Turnhalle.
Die Geschwister hießen: Hans und Sophie Scholl. Beide wurden von wirklich bösen Menschen getötet. Und warum? Weil sie so mutig waren, eine Wahrheit zu sagen, die diese bösen Menschen nicht hören wollten.
Die Geschichte vom Tode Sophie und Hans Scholls und die Geschichte warum sie sterben mussten, ist eine schreckliche.
Der Name „Geschwister-Scholl“ wurde deshalb ausgewählt, damit er euch ein Vorbild - ein Vorbild an Mut, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie anderen Menschen nicht gefällt!
Aber jetzt, wo du noch die Grundschule besuchst, möchte ich dir über das kurze Leben Sophie Scholls erzählen.
Sigmaringen, den 9. Mai 1998, dem Geburtstag von Sophie Scholl
Rolf Rebsam, Rektor
Sophie Scholl wurde am 9. Mai 1921 in Forchtenberg am Kocher, im heutigen Baden-Württemberg, geboren. Dort verbrachte sie im Kreis ihrer Geschwister, Inge, geboren 1917, Hans, geb. 1918, Elisabeth, geb. 1920, und Werner, geb. 1922, ihre ersten sieben Lebensjahre.
Robert Scholl, Sophies Vater, war bis 1930 in Forchtenberg Bürgermeister, eine Aufgabe, die er vorher schon in Ingers-heim an der Jagst ausgeübt hatte. Er war eine beeindruckende Erscheinung- groß von Statur, zigarrenrauchend und mit Schnurrbart. Wegen seiner Begabung hatte er mit Hilfe eines evangelischen Pfarrers eine höhere Schule besucht. Im Ersten Weltkrieg (1914 bis 1918) gehörte er zu den Menschen, die die allgemeine Kriegsbegeisterung nicht mitmachten. Er diente in einer Sanitätskompanie.
Die Mutter, Magdalena Scholl, war vor ihrer Hochzeit Diakonissenschwester gewesen.
Die Eltern haben sich im Ersten Weltkrieg in einem Lazarett in Ludwigsburg kennengelernt, wo Sophies Vater für das Rote Kreuz verwundete Soldaten betreute. In dem Ludwigsburger Lazarett arbeitete Sophies Mutter als Krankenschwester.
Damals, im Jahre 1921, brachte noch eine alte gelbe Postkutsche die Reisenden in rumpelnder Fahrt von Forchtenberg zur nächsten Bahnstation. Sophies Vater setzte durch, dass die Eisenbahn im Kochertal bis nach Forchtenberg verlängert wurde. Auch ließ er eine Turnhalle und ein großes Lagerhaus errichten. Das Lagerhaus war ein landwirtschaftliches Gebäude, in dem die Ernte gesammelt wurde. Er sorgte für den Ausbau der Kanalisation und die Ausbesserung der durch Hoch-wasser schwer beschädigten Straßen.
Was Sophies Vater nicht konnte und nicht mochte und was eigentlich ein Bürgermeister in einer solchen Gegend können muss, das war: in der Wirtschaft sitzen und mit den Leuten Viertele trinken, denn das Kochertal ist ein Weinanbaugebiet.
Sophies Mutter war eine fröhliche, den Menschen und dem Leben zugewandte Frau. Sie konnte aber auch manchmal still und ernst sein. Sie kümmerte sich um Kranke und Sozial-Schwache. Was uns Kinder angeht, so interessierte sie sich für alles, was uns berührte und was wir erlebten. Der Vater war streng und gerecht zu seinen Kindern. Die Eltern haben immer erlaubt, dass Freunde und Freundinnen ihrer Kinder zu Besuch kommen. Nie sagte die Mutter: “Aber heute möchte ich hier niemanden sehen, ich habe gerade geputzt.“ Meistens durften die Freunde und Freundinnen mitessen, und manchmal sogar über Nacht bleiben.
Der Vater mietete immer eine große Wohnung - es sollten alle Kinder viel Platz haben und Gäste eingeladen werden können.
In solch großen Wohnungen hatten wir alle Möglichkeiten, uns zu beschäftigen. Neben dem Malen und Zeichnen spielten Bücher dabei eine große Rolle, und zwar von frühester Kindheit an. Sophies erste Bücher waren „Die Wurzelkinder“, „Der Struwwelpeter“, natürlich Grimms und von Hauffs Mär-chen und eine Bibel mit Bildern. Am liebsten war ihr ein dickes Ludwig-Richter-Buch. Da standen Gedichte, Sprüche, Märchen und Geschichten drin, zu denen Richter Bilder gemalt hatte. Gelegentlich hat auch ein Lehrer nachmittags im Freien vorgelesen, zum Beispiel „Robinson Crusoe“, „Rulaman“ und Heimatgeschichten.
Von allen Geschwistern besaß Sophie die größte Begabung im Malen und Zeichnen. Sie malte am liebsten Kinder, wahr-scheinlich weil sie Kinder so sehr mochte. Sie zeichnete mit ganz zarten Strichen. Später versuchte sie, mit Wasser- und Wachsfarben zu arbeiten. Großes Vergnügen bereitete ihr auch, längere Texte zu illustrieren. Gemeinsam mit ihrer Schwester Inge dachten sie sich ein Märchen aus, Inge schrieb den Text und Sophie lieferte die passenden Zeichnungen dazu.
Sophie spielte auch gern mit Puppen. In jedem Jahr wurden zu Weihnachten die Puppenstuben neu ausgestattet und neue Puppenkleider genäht. Als Sophie schon etwas älter war, wünschte sie sich zu Weihnachten ein großes Puppenbett mit richtigen Rädern. Sie sagte, später, wenn sie selber ein Kind habe, wolle sie es hineinlegen.
Am liebsten spielte Sophie draußen, im Freien. Die Umgebung von Forchtenberg war unbeschreiblich schön. Weinberge und dichte Mischwälder mit Buchen und Tannen umgrenzten das Städtchen. In diesen Wäldern verbrachte Sophie mit ihren Geschwistern, Freunden und Freundinnen Stunden und manchmal ganze Tage. Sie suchten nach Beeren und Pilzen und machten Schnitzeljagden. Neben einer verwitterten Burgruine lag ein ein buckliger Pfarrgarten, der mit mit seinen vielen Bäumen einem Park glich. Das war für die Kinder ein idealer Platz zum Theaterspielen. Immer wieder fiel ihnen etwas Neues ein, das sie ausprobierten. Theateraufführungen ohne Publikum. Nur die Bäume waren die Zuschauer.
An den Weinbergen waren Steinriegel angelegt, die wie Bänder von unten nach oben liefen. Wahrscheinlich haben Weinbauern die Steine im Laufe der Jahrhunderte zusammengelesen und damit die einzelnen Weinanbauflächen unterteilt. In diesen Steinriegeln wuchs und wucherte alles an Pflanzen und Sträuchern, was zwischen den Rebstöcken nicht mehr wachsen durfte: Holunder und Schlehen, kleine Buchen und Tannen. Die einzelnen Steinplatten der Riegel-Mauern benutzte Sophie, um sich ganze Wohnungen einzurichten. Je nach Form und Größe gebrauchte sie die Brocken als Tisch, Stühle und sogar als Klavier. Alles in dieser Umgebung wurde zum Gegenstand. Kleine Steine waren Kirschen, größere bildeten Schüsseln. Und wenn Sophie ein Jahr später auf diese Spiel-Plätze kam, war alles mit Moos bewachsen. Plötzlich besaß sie ganze Häuser mit Moosdecken und Moosteppichen, dichtes grünes Moos, das man anfassen konnte.
Der Kocher, der Fluss, der an Forchtenberg vorbeifließt, war zu Sophies Kindheit ein ganz sauberer Fluss. In der Nähe von Forchtenberg gab es im Kocher ein Wehr, das die Kinder besonders anzog. Auf dem Wehr sonnte sich Sophie mit ihren Geschwistern und ließ das Wasser an sich vorbeiplätschern. Inge, ihre älteste Schwester, hat dort Sophie das Schwimmen beigebracht. Lange hat sie nicht üben müssen. Sie war noch nicht einmal sechs Jahre alt, da hat sie mit Inge schon den Kocher durchschwommen. Das war für Sophie ein ungeheures Erlebnis und für die damalige Zeit keine Selbstverständlichkeit, denn die Schulen ermöglichten den Kindern keinen Schwimmunterricht.
Sophie genoss das Wasser. Sie war eine begeisterte Schwimmerin. Wann immer ein Bach oder ein Tümpel in der Nähe war, zog sie Schuhe und Strümpfe aus und watete barfuß hindurch. Dem konnte sie einfach nicht widerstehen. Und Gelegenheiten durchs Wasser zu waten, gab es genug. Denn oft trat der Kocher im Frühjahr über seine Ufer und überschwemmte die Straßen von Forchtenberg. Dies bereitete den Erwachsenen große Sorgen, während es für die Kinder ein unersetzliches Vergnügen darstellte. Sophies Vater kaufte ihr Stelzen und damit überquerte sie die überfluteten Straßen und Plätze und fühlte sich wie eine Königin, die Land erobert.
In Forchtenberg und in Ludwigsburg besuchte Sophie die Grundschule. Sie war ein kluges und sehr fleißiges Mädchen. In Forchtenberg gab es noch die Strafe der Tatzen. Die Kinder mussten die Hand weit geöffnet nach vorne strecken, und der Lehrer haute mit einem dünnen Stock auf die Handinnenfläche. Solche Schläge schmerzten empfindlich, und nicht selten schwoll die Handfläche anschließend an. Sophie bekam während ihrer Schulzeit eine einzige Tatze; weshalb, das wusste ihre Schwester Inge nicht mehr.
Ungerechtigkeiten konnte sie nicht aushalten. Ihr Empfinden für Gerechtigkeit war stark ausgeprägt. Es fehlte ihr auch nicht an Mut, sich zu Wehr zu setzen und Protest anzumelden, wenn jemand ihrer Meinung nach ungerecht behandelt wurde. Wenn der Lehrer eine Schülerin oder einen Schüler ungerecht behandelte, stand Sophie sofort auf und protestierte.
Im Klassenzimmer saßen damals die Schüler(innen) nach ihren Noten: der beste saß auf Platz eins, also ganz vorne, der zweitbeste auf Platz zwei und so weiter. Die schlechtes-ten Schüler(innen) saßen deshalb ganz hinten. Wer sich also in seinen Leistungen verbesserte, durfte weiter nach vorne sitzen, wer sich verschlechterte, musste nach hinten rücken. Am Ende eines Schuljahres war im Zeugnis aufgeschrieben, auf welchem Platz der Schüler das Halbjahr über gesessen hatte.
Nach der Grundschulzeit in Forchtenberg und Ludwigsburg wechselte Sophie auf das Gymnasium in Ulm. Dort unternahm sie mit ihrer Klasse - sie war damals 14 Jahre alt - einen Ausflug ins Blautal, einem Nebenflüsschen der Donau, das an einigen Stellen von steilen Kalkfelsen begrenzt wird. Nicht nur Wasser, auch Felsen und Bäume übten auf Sophie eine fast magische Anziehungskraft aus. Als ihre Lehrerin gerade etwas erklärte, kletterte sie mit beinahe schlafwandlerischer Sicherheit einen steilen Felsen hinauf. Oben angekommen, blickte sie fröhlich nach unten auf ihre Klassenka-meradinnen und bemerkte dabei, dass alle wie erstarrt zu ihr hinaufschauten. Jemand anders hätte jetzt vielleicht gerufen: Kommt doch rauf! Sophie reagierte ganz anders: Sie drehte sich sofort um und kletterte ganz still wieder nach unten. Ihrer Lehrerin musste sie das Versprechen geben, nie wieder auf einen so gefährlichen Felsen zu klettern. Diese stille, in sich gekehrte Art bewahrte sie sich. Bei allen möglichen An-lässen sofort losreden und losplatzen, das konnte sie nicht. Sie nahm sich Zeit, etwas zu überdenken.

Ihr ganzes Leben lang lag Sophie immer wieder gerne in der Wiese. Sie beobachtete Schmetterlinge und hörte dem Summen der Bienen, Wespen und Hummeln zu. Jede Wiesenblume kannte sie mit Namen. Sie konnte alle Bäume bestimmen - mit geschlossenen Augen befühlte sie seinen Stamm und nannte seinen Namen.
Einmal sagte sie: „Ich wünschte, eine Zeitlang auf einer Insel zu leben, wo ich tun und sagen darf, was ich möchte.“

An einem Morgen hörte Sophie auf der Schultreppe eine Klassenkameradin zur anderen sagen: Jetzt ist Hitler an die Regierung gekommen (30.1.1933). Das Radio und alle Zei-tungen verkündeten: Nun wird alles besser werden in Deutschland. Sophie war damals 12 Jahre alt.
Und Hitler, so hörte sie überall, Hitler wolle dem Vaterland zu Größe, Glück und Wohlstand verhelfen; er wolle sorgen, dass jeder Arbeit und Brot habe; nicht ruhen und rasten wolle er, bis jeder Deutsche ein unabhängiger, freier und glücklicher Mensch in seinem Vaterland sei. Wir Kinder fanden das gut; wir konnten es aber nicht verstehen, dass unser Vater nicht glücklich ja dazu sagte.
In der Familie Scholl gab es heftige Auseinandersetzungen über Hitler. Ihr Vater warnte: Können wir Menschen weiterhin unsere freie Meinung sagen?
Wie ihre Geschwister trat Sophie in die Hitler-Jugend ein, zu der Gruppe der Jungmädel. Da wurde viel unternommen: Es wurde gezeltet, gewandert, Geländespiele durchgeführt, bei Feuer- und Fackelschein Lieder gesungen.
Nach einer Fahrradtour sagte abends ein Mädchen plötzlich: Es wäre alles so schön, wenn die Sache mit den Juden nicht
wäre. Zur Sophies Schulklasse in Ulm gehörten nämlich zwei Schülerinnen, die Luise und die Anneliese, die Jüdinnen wa-ren. Beide durften dem Jungmädelbund nicht beitreten, was Sophie immer wieder empörte. „Warum darf Luise, die blonde Haare und blaue Augen hat, nicht Mitglied sein, während ich mit meinen dunklen Haaren und dunklen Augen Mitglied bin?“, fragte sie immer wieder. Die Freundschaft zu Anneliese hielt Sophie bewußt aufrecht, und brachte sie öfter mit nach Hause, obwohl sie wusste, dass eine solche Freundschaft nicht erlaubt war.
Eines Tages, im November 1937, klingelte es frühmorgens an der Wohnungstür der Familie Scholl. Zwei Männer forderten Einlass; sie waren Beamte der Geheimen Staatspolizei und erklärten, sie müssten die Wohnung durchsuchen und anschließend die Kinder mitnehmen. Sophies Eltern waren schockiert. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass etwas Ernsthaftes gegen sie vorlag. Sophies Mutter protestierte heftig und wurde sehr zornig. Aber ihr Zorn half nichts. Sophie, ihr Bruder Werner und ihre Schwester Inge mussten mit wegen „bündischer Umtriebe“. Sie wurden in das Ortsgefängnis eingesperrt. Dort ließ man sie einen Tag lang sitzen, selbstverständlich getrennt voneinander. Sophie wurde am gleichen Tag noch aus dem Gefängnis entlassen; die Beamten hatten sie versehentlich mitgenommen, weil sie Sophie für einen Jungen hielten.
Am Abend desselben Tages wurden Sophies Bruder Werner und ihre Schwester Inge in einem offenen Lastwagen auf der soeben fertiggestellten Autobahn von Ulm nach Stuttgart gebracht. Sie fuhren zusammen mit den anderen, ebenfalls festgenommenen Jungen ohne warme Kleider bei Schneegestöber über die Schwäbische Alb. Acht Tage lang blieben sie eingesperrt - sie durften weder lesen noch schreiben. Nach-dem man sie vernommen hatte, ließ man sie schließlich ge-hen.
Dass ihre Geschwister im Gefängnis waren, wirkte sich für Sophie in der Schule nachteilig aus. Sie wurde immer wieder gefragt: Was habt ihr denn angestellt? Mehrfach musste sie zur Schulleitung kommen, die irgendetwas Geheimnisvolles aus ihr herauskramen wollte.
Als Sophie 16 Jahre alt war, besuchte sie wie viele andere Mädchen in ihrem Alter Tanzveranstaltungen. Auch damals gab es viele Schlager, nach denen man sehr gut tanzen konnte. Sophie war eine ausgezeichnete Tänzerin. Sie tanzte mit großer Hingabe; sie ließ sich von der Musik forttragen und vergaß ihre Umgebung. Tanzen war für sie etwas Befreiendes. Oft traf sie sich bei ihrer Freundin Anneliese, die ein Grammophon und Platten zum Tanzen besaß. Dort lernte Sophie ihren späteren Freund Fritz Hartnagel, der 4 Jahre älter war, kennen.
Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen. Allen Freunden, die in den Krieg ziehen mussten, nahm Sophie das Versprechen ab, dass sie niemals schießen würden. Aber sie wusste natürlich, wie unwirklich ein solches Versprechen war.
Im März 1940 bestand Sophie ihr Abitur. Nach dem Abitur hätte sie am liebsten gleich mit ihrem Studium der Biologie und Philosophie begonnen. Aber zuerst musste man damals ein halbes Jahr beim Reichsarbeitsdienst arbeiten bevor man mit dem Studium beginnen konnte. Sophie wollte nicht zum Arbeitsdienst, deshalb meldete sie sich beim Fröbel-Seminar in Ulm an, um sich als Kindergärtnerin ausbilden zu lassen.
Im August 1940 musste sie ein vierwöchiges Ferienpraktikum in einem Kinderheim in Bad Dürrheim im Schwarzwald ableisten. In diesem Heim waren Kinder und Jugendliche mit Magen- und Darmerkrankungen untergebracht. Im Septem-ber 1940 kehrte sie nach Ulm zurück.
Anfang März 1941 bestand Sophie ihre Prüfung als Kindergärtnerin. Jetzt hoffte sie, endlich mit dem Studium anfangen zu können. Aber die Behörden erkannten das Fröbel-Seminar nicht als Ersatz für den Arbeitsdienst an. Schon vier Wochen später musste sie zum Arbeitsdienst gehen und kam in ein Lager in Krauchenwies bei Sigmaringen. Das Lager war in einem etwas heruntergekommenen Schloss eingerichtet, das an einen Park grenzt. Die folgenden sechs Monate wurden für Sophie oft zur Qual. Sie hatte Heimweh. Der Drill und die Schikanen ihrer Vorgesetzten gingen ihr auf die Nerven. In einem Brief schrieb sie: Wir leben sozusagen wie Gefangene, da nicht nur Arbeit, sondern auch Freizeit zum Dienst wird.
Anfang Juni 1941 durfte sie außerhalb des Lagers arbeiten. Sie musste bei Bauern auf den Feldern zwischen winzigen Mohnpflänzchen Unkraut jäten.
Das Essen im Lager war dürftig; meistens gab es Pellkartoffeln. Bei den Bauern bekam sie frische Milch und selbstge-backenes Brot. Durch die schwere Arbeit auf den Feldern bekam sie an den Händen Blasen, die sich allmählich in Schwielen verwandelten.
Am 21. Juni 1941 kam ihre Schwester Inge nach Krauchen-wies, um Sophie zu besuchen. Am nächsten Tag (22. Juni 1941) hörten sie im Radio, dass die deutschen Truppen in Russland einmarschiert waren. Das war ein Sonntag. Und trotz dieser schlimmen Nachricht im Radio ist es für Inge und Sophie ein wunderschöner Tag geworden, denn sie unternahmen Spaziergänge in den Wäldern im Donautal. Abends musste Sophie ins Lager zurück. Der Abschied von Inge war schwer und bedrückend.
Ende August 1941 konnte Sophie das Lager in Krauchenwies verlassen und ihre Vorfreude auf das Studium war groß. Doch aus dem Radio erfuhr sie, dass junge Menschen, die studieren wollten nach dem Arbeitsdienst ab sofort noch sechs Monate Kriegshilfsdienst leisten mussten.
Schon Anfang Oktober 1941 war sie an ihrer neuen Arbeitsstelle in einem Kinderhort in der Stadt Blumberg als Kinder-gärtnerin tätig.
Ende März 1942 kehrte sie nach Ulm zurück. Sie half im Haus und im Büro ihres Vaters, der ein Steuerberatungsbüro eröffnet hatte.
Anfang Mai hieß es wieder, Abschied von Eltern und Schwestern zu nehmen. Sophie wollte endlich in München mit ihrem Studium beginnen.
Es war am Vorabend von Sophies 21. Geburtstag. Beim Gutenachtkuss sagte sie zu ihrer Mutter: Ich kann`s noch kaum glauben, dass ich morgen mit dem Studium anfangen darf. Auf dem Boden lag ein offener Koffer mit Kleidern und frischer Wäsche und mit all den tausend Kleinigkeiten, die So-phie für den neuen Studentenhaushalt haben musste. Am nächsten Morgen stand sie reisefertig und voll Erwartung da. Eine gelbe Margerite vom Geburtstagstisch steckte an ihrer Schläfe, und es sah schön aus, wie ihr so die dunkelbraunen Haare glatt und glänzend auf die Schultern fielen. Aus ihren großen dunklen Augen sah sie sich die Welt an, prüfend und doch lebhaft. Ihr Gesicht war noch sehr kindlich und zart.
Die 150 Kilometer lange Fahrt von Ulm nach München legte Sophie am 9. Mai 1942 mit der Eisenbahn zurück. Dass die ser 21. Geburtstag bereits ihr letzter sein würde, konnte sie nicht ahnen.
Ihre Gedanken waren neugierig-gespannt auf München gerichtet. Kaum war der Zug im Hauptbahnhof eingefahren, erblickte sie schon ihren Bruder Hans, der bereits in München Medizin studierte. Ihre Erwartung schlug um in spontane Freude. In dieser Stadt brauchte sie sich nicht verlassen vorzukommen. Seit langem hat sie sich gewünscht, in der Nähe ihres „großen Bruders“ zu sein, mit dem sie fast alle Interessen teilen konnte. Jetzt gingen sie schnellen Schrittes nebeneinander her zu seiner Studentenbude. „Heute Abend wirst du meine Freunde kennenlernen“, sagte Hans zu ihr.
Im Zimmer des Bruders wurde der Geburtstag von Sophie gefeiert. Die Runde genoss den aus Ulm mitgebrachten Wein und Kuchen. Dieser Abend verlief so, als hätte Sophie schon lange dazu gehört.
In den folgenden Tagen und Wochen lernte sie den Freun-deskreis um ihren Bruder kennen. Die engsten Freunde von Hans waren Alexander Schmorell, Christoph Probst, Willi Graf, Manfred Eickemeyer und Professor Kurt Huber.
Manfred Eickemeyer, von Beruf Architekt, der sich öfters in Polen und in der Sowjetunion aufhielt, berichtete den Studenten von Massendeportationen und Massenerschießungen in den besetzten Gebieten. Hans hatte in Lazaretten im besieg-ten Frankreich gearbeitet und dort das Leid gesehen, das durch den Krieg über die Menschen kam. Auch sprach sich herum, dass Hitler Juden und geistig behinderte Menschen umbringen ließ. Worauf also noch warten, fragten sich die Studenten. Und sie entschlossen sich, Flugblätter zu schreiben und in ihnen gegen das Böse zu protestieren.
Alexander Schmorell besorgte also eine Schreibmaschine, ein Vervielfältigungsgerät, Matritzen und Papier. Architekt Eickemeyer stellte sein Atelier, das in einem Hinterhof lag, zur Verfügung. Dort wurden in den Monaten Mai, Juni und Juli 1942 die ersten Flugblätter geschrieben und kopiert. Sie trugen die Überschrift „Die Flugblätter der Weißen Rose“.

(Die Herkunft des Namens „Die Weiße Rose“ ist nicht geklärt.)
Diese Flugblätter waren eine Sensation, denn in Deutschland wagte schon lange niemand mehr, seinen Mund gegen Hitler aufzutun. Einige, die die Flugblätter im Briefkasten fanden, brachten sie gleich zur Polizei, andere ließen sie schnell irgendwo verschwinden. Aber es gab auch Menschen, die den Mut aufbrachten, die Flugblätter heimlich abzutippen und weiterzugeben.
Doch bevor weitere Flugblätter geschrieben werden konnten, war alle schon wieder vorbei. Am 22. Juli 1942 wurde Hans und viele seiner Freunde in den Krieg nach Russland geschickt.
Ende Juli 1942 - das Sommersemester war vorbei - kehrte Sophie nach Ulm zurück. Am 3. August begann gegen ihren Vater ein Prozess, weil er Hitler „eine große Gottesgeißel“ genannt hat. Dies hat ein Angestellter in seinem Büro gehört und der hat ihn deswegen bei der Geheimen Staatspolizei
angezeigt. Und wieder klingelten eines Morgens zu früher Stunde zwei Beamte der Geheimen Staatspolizei an der Wohnungstür, durchsuchten die Wohnung und führten ihren Vater und ihre Schwester Inge zum zweitenmal ab. Ihr Vater wurde wegen „Heimtücke“ zu einer viermonatigen Gefäng-nisstrafe verurteilt.
Sophie besaß ein mutiges Herz und einen klaren Verstand. Der Mut zum Durchhalten verlangte viel von ihr: der Vater im Gefängnis, die Mutter mit ihrem kranken Herzen und zwei Brüder, Hans und Werner, in Russland. An manchen Sommerabenden stellte sie sich in die Nähe des Gefängnisses, in dem ihr Vater war, und blies mit ihrer Flöte das Lied „Die Gedanken sind frei ...“
Trotz ihrer Zeit beim Arbeitsdienst und beim Kriegshilfsdienst musste sie jetzt noch zwei Monate in einem Rüstungsbetrieb arbeiten. In einem Rüstungsbetrieb, in dem auch Kriegsgefangene arbeiteten, wurden Kriegsgeräte hergestellt, wie Gewehre, Kanonen, Panzer, Flugzeuge usw. Dass sie dabei mithelfen sollte, erschreckte sie sehr. Auch quälte sie der Gedanke, dass sie mit dieser Arbeit dazu beiträgt, das Morden und Sterben im Krieg zu verlängern.
Anfang Oktober 1942 kehrten Hans und seine Freunde aus Russland und Sophie aus Ulm nach München zurück. Sie begannen wieder Flugblätter zu schreiben. Das Schreiben und Verteilen der Flugblätter waren mit vielen Mühen und Gefahren verbunden. Wenn ein Luftangriff war, unterbrachen die Studenten ihre Arbeit und schafften das Vervielfältigungsgerät in den Keller, wo es unter Pappkarton versteckt wurde. Das Vervielfältigungsgerät funktionierte nicht etwa durch Knopfdruck wie bei uns an der Schule, sondern musste mit der Handkurbel bedient werden.
Die Studenten wechselten sich bei ihrer Arbeit ab. Sophie war fast immer dabei. Sie besorgte Matrizen und Papier. Dabei musste sie sehr vorsichtig sein. Sie konnte nicht immer in demselben Geschäft einkaufen, um sich nicht verdächtig zu machen.
Ihre Flugblätter verteilten sie nicht nur in München. Sophie packte ihre alte Schulmappe oder ihren Rucksack voll und pendelte mit dem Zug zwischen Augsburg, Stuttgart und Ulm. Wenn ein Beamter der Geheimen Staatspolizei in die Schulmappe oder in den Rucksack geschaut hätte, wäre sie sofort verhaftet worden. Um dieser Gefahr zu entgehen, wurde Rucksack oder Mappe zu Beginn der Reise in einem Abteil abgelegt, und der Kurier nahm im nächsten Abteil Platz. Kurz vor der Ankunft holte er sich sein Gepäck ab.
Die Flugblätter „Der Weißen Rose“ tauchten bald in vielen Städten auf, in Frankfurt, Berlin, Hamburg, Freiburg i.B., Saarbrücken, auch in Salzburg und Wien. Einige gelangten später sogar ins Ausland nach Norwegen, England und Schweden.
In München war die Geheime Staatspolizei aufs Höchste alarmiert. Sie bildete eine Sonderkommission, die die Aufgabe hatte, die Leute, die diese Flugblätter herstellten und verteil-ten, ausfindig zu machen.
Die Weihnachtstage 1942 verbrachten Sophie und ihr Bruder Hans zu Hause in Ulm. Anfang Januar 1943 kehrten sie nach München zurück. Sie und ihre Freunde fingen gleich wieder an, neue Flugblätter zu schreiben und zu verteilen. Ein Flugblatt trug die Überschrift: Aufruf an alle Deutsche! Und begann mit dem Satz:
Der Krieg geht seinem sicheren Ende entgegen.
Einige Zeilen weiter hieß es:
Hitler kann den Krieg nicht gewinnen, nur noch verlängern.
Sophie fuhr mit dem Zug nach Augsburg und steckte die Umschläge, die bereits mit Adressen und Briefmarken versehen worden waren, in verschiedene Briefkästen. Obwohl die Gefahr immer größer wurde, erwischt zu werden, kehrte sie unbehelligt von ihren gefährlichen Reisen zurück.
An einem Morgen ging Sophie zur Universität. Neben dem Eingang der Universität hatten sich viele Studenten versammelt und starrten an die Mauer. Als sie näher kam, sah sie an dieser Mauer in über einen Meter großen Buchstaben in schwarzer Farbe das Wort FREIHEIT angeschrieben. Mehrere Putzfrauen waren emsig bemüht, diese Aufschrift abzuschrubben.
Am 3. Februar 1943 kam die Nachricht im Radio, die 6. Deutsche Armee hat die Schlacht um Stalingrad (heute Wolgograd) verloren. Die Mitglieder der „Weißen Rose“ schrieben daraufhin ihr nächstes Flugblatt, das zugleich ihr letztes war.
Der 18. Februar 1943 war ein Donnerstag. Die Sonne schien schon frühmorgens und kündigte einen milden Vorfrühlings-tag an. Sophie und ihr Bruder Hans waren zur üblichen Zeit aufgestanden. Sie frühstückten gemeinsam und gingen gegen zehn Uhr mit einem Handkoffer zur Universität. Zu dieser Zeit waren noch in den Hörsälen Vorlesungen. Sophie und Hans verteilten auf den menschenleeren Treppen, Fensterbänken und Mauervorsprüngen die mitgebrachten Flugblätter bis auf einen kleinen Rest. Sie hasteten zum Ausgang, und als sie schon wieder draußen waren, kam ihnen der Gedanke, sie müssten den Koffer ganz leeren und auch die restlichen Flugblätter verteilen. Also stürmten sie wieder die Treppen hinauf und warfen den Rest der Flugblätter in den Lichthof der Universität.
Kurz darauf öffneten sich die Hörsäle. Sophie und Hans rasten die Treppen hinunter. Ihnen entgegen kam der Hausmeister, Jakob Schmid. In großer Erregung packte er die beiden am Arm und schrie mehrmals: „Sie sind verhaftet!“
Der Hausmeister führte sie zum Hausverwalter, dieser zum Rektor. Die Geheime Staatspolizei wurde alarmiert. Sie ließ alle Ausgänge der Universität sperren. Die Studenten mussten sich im Lichthof versammeln und jeder, der ein Flugblatt an sich genommen hatte, hatte es an einen dazu beauftragten Sammler abzugeben. Das dauerte zwei Stunden, bis schließlich Sophie und ihr Bruder mit gefesselten Händen abgeführt wurden.
Die Geschwister wurden zum Wittelsbacher Palais , der Zentrale der Geheimen Staatspolizei, gebracht. Dort wurden sie verhört.
Sophie und Hans erklärten, sie hätten mit den Flugblättern nichts zu tun, sie seien zufällig vorbeigekommen und vom Hausmeister zu Unrecht festgehalten worden.
In der Zwischenzeit wurden die Studentenzimmern der beiden durchsucht und dabei entdeckten die Beamten mehrere hundert neue Briefmarken. Das war etwas, was Sophie und Hans stark belastete.
Vier Tage dauerten die Verhöre im Wittelbacher Palais. Als alles Leugnen nichts half, übernahmen Sophie und Hans für die Flugblätter die volle Verantwortung. Sie sagten , sie hätten ein noch größeres Unglück für Deutschland verhindern und Hunderttausenden von deutschen Soldaten und Menschen das Leben retten wollen. Dafür sei kein Opfer zu groß.
Die Eltern von Sophie und Hans erfuhren am Freitag, dem 19. Februar 1943, von der Verhaftung ihrer Kinder. Am Montagmorgen, dem 22. Februar, machten sich die Eltern auf den Weg nach München, begleitet von ihrem jüngsten Sohn Werner, der zwei Tage vorher aus Russland auf Urlaub ge-kommen war. Eilig begaben sie sich zum Justizpalast. Der Volksgerichtshof tagte schon unter dem Vorsitz des berüch-tigten Präsidenten Roland Freisler, der für diese Verhandlung mit einer Sondermaschine aus Berlin nach München geflogen wurde.
Die Verhandlung begann um 9.00 Uhr und ging um 14.00 Uhr zu Ende.
Am Ende der fünfstündigen Verhandlung sprach Freisler das Urteil: Hinrichtung durch das Beil.
Dann wurden Sophie und Hans in das Gefängnis München-Stadelheim gebracht.
Den Eltern war es gelungen, ihre Kinder noch einmal zu sehen. Zwischen 16 und 17 Uhr eilten sie zum Gefängnis. Sie wussten noch nicht, dass dies endgültig die letzte Stunde ih-rer Kinder war.
Zuerst durfte Hans kommen. Er trug Sträflingkleider. Sein Vater schloss ihn in die Arme und sagte: „Ihr werdet in die Geschichte eingehen, es gibt noch eine Gerechtigkeit“
Darauf wurde Sophie von einer Wachtmeisterin hereingeführt. Sie trug ihre eigenen Kleider und ging langsam und gelassen und sehr aufrecht. Ihre Mutter sagte: „Nun wirst du also gar nie mehr zur Türe hereinkommen.“ „Ach, die paar Jährchen, Mutter“, gab sie zur Antwort.
Am gleichen Tag, 22. Februar 1943, um 17 Uhr wurden Sophie, 21 Jahre alt, und ihr Bruder Hans, 24 Jahre alt, durch das Beil hingerichtet.
Die Begründungen für diese Todesurteile waren: Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung, Beschmieren von Häusern mit staatsfeindlichen Aufforderungen, Verbreitung hochverräterischer Flugschriften.
Am 24. Februar 1943 wurden Sophie und Hans Scholl auf dem Perlacher Friedhof in München beerdigt.
Fritz Hartnagel hat von dem Tod seiner Freundin Sophie erst später erfahren. Im Mai 1942 hatten sie sich zum letztenmal gesehen. Danach musste er an die Front nach Russland, in die Nähe von Stalingrad. Wie durch ein Wunder konnte er als Verwundeter mit einem der letzten Flugzeuge der Hölle von Stalingrad entkommen.
In den folgenden Monaten wurden in München und anderen Städten etwa 8o Menschen verhaftet und verurteilt.
Professor Huber, Willi Graf und Alexander Schmorell wurden am 19. April 1943 ebenfalls zum Tode verurteilt.